Präsidentschaftswahl 2020: Herbst der Stagflation

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  • Präsidentschaftswahl 2020: Herbst der Stagflation

    Wanli, 04.09.2020 17:24
    #1

    Nach den Wahlparteitagen ist vielleicht mal ein neuer Thread angezeigt; der jüngste Vorgänger, der den Sommer abdeckt, sowie ein älterer Strang verbergen sich hinter den Links.

    Stagflation? Ja, denn wir erleben einerseits eine Inflation an Aufregern, fast jeden Tag kommt etwas Neues, von dem man früher angenommen hätte, dass es die Wahl beeinflussen muss: Der Präsident der USA ruft seine Anhänger dazu auf, nach Möglichkeit zweimal zu wählen, also Wahlbetrug zu begehen? Check. Laut Berichten im Atlantic und der Washington Post hat der POTUS gefallene Soldaten gern vor seinem Stab als "Loser" bezeichnet? Check. Und das waren jetzt nur die Schlagzeilen seit gestern. Wenn Obama das getan hätte - das Geschrei wäre ohrenbetäubend gewesen, aber es ist wohl anzunehmen, dass auch solche Äußerungen im derzeitigen Wahlkampf schlicht verhallen und morgen schon vergessen sein werden.

    Denn letzlich wankt derzeit eine vom ständigen Geschrei ausgelaugte amerikanische Öffentlichkeit einem Wahltag entgegen, der den meisten BürgerInnen wohl nicht schnell genug kommen kann. Die Meinungen scheinen weitgehend festzustehen und ich kann mich nicht erinnern, in den letzten dreizehn Jahren schon einmal so unglaublich stabile Umfragezahlen vor einer Präsidentschaftswahl gesehen zu haben:

    https://projects.fivethirtyeight.com/polls/president-general/national/

    Die Stagnation der Umfragezahlen ist irgendwo natürlich ein Alarmsignal für alle demokratischen Gesellschaften. Offensichtlich können diese ein Stadium der Polarisierung  erreichen, in dem eine Grundannahme schlicht außer Kraft gesetzt ist: Dass die BürgerInnen nämlich vor einer Wahl einen kritischen Blick auf das Regierungshandeln und den Zustand des Landes werfen und dann entsprechend den Daumen heben oder senken. Ausgerechnet der Präsident, der täglich mit neuen Normverstößen schockiert, gegen den ein Sonderermittler tätig wurde und ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurde und in dessen Amtszeit (zum Beispiel) eine Epidemie samt Wirtschaftscrash sowie verschärfte Spannungen in Folge von Polizeigewalt fielen, der aber andererseits in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit auf ausnehmend gute Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten verweisen konnte, sticht unter den Staatsoberhäuptern der jüngeren Vergangenheit durch die geringe Schwankungsbreite seiner Zustimmungswerte hervor:

    https://www.vox.com/2020/9/2/21409364/trump-approval-rating-2020-election-voters -coronavirus-convention-polls

    Gibt es überhaupt noch irgendetwas, das diesen Wahlkampf tatsächlich erschüttern kann, oder werden die Kandidaten schlicht die traditionellen Rituale absolvieren, während die Öffentlichkeit nur mit einem Auge hinschaut, da für die WählerInnen eh schon alles geklärt ist? Ich freue mich auf unsere Diskussionen dazu.

    Fivethirtyeight hat eine Prognoseseite:

    https://projects.fivethirtyeight.com/2020-election-forecast/

    Der Economist ebenso (basierend auf einem anderen Modell natürlich):

    https://projects.economist.com/us-2020-forecast/president

    RCP bietet aktuelle Polls zu unterschiedlichen Schlagwörtern:

    https://www.realclearpolitics.com/

  • Trumps gute Wettquoten: Versuch einer Erklärung

    Wanli, 04.09.2020 22:59, Reply to #1
    #2

    Auch die Financial Times hat sich Gedanken darüber gemacht, warum so viele Menschen Trumps Chancen als ziemlich gut einschätzen, was sich zum Beispiel in den recht ausgeglichenen Wettquoten zeigt, obwohl er in den Umfragen doch zurückliegt. Die erste Feststellung: Politikinteressierte achten nach 2016 stärker als vorher auf die Umfragen in den Swing States - der Grund dafür dürfte seit Clintons Wahlniederlage auf der Hand liegen. Sie sehen, dass Biden dort jetzt keinen überwältigenden Vorsprung hat, erinnern sich daran, dass die Demoskopen 2016 Clinton in diesen Swing States überschätzten - und schlussfolgern, dass das 2020 auch Biden passieren könne.

    Was dabei allerdings unbeachtet bleibt, sind die Anpassungen, die Demoskopen seit 2016 an ihrer Methodik vorgenommen haben - anderswo hatte ich darüber schon spekuliert, dank der FT weiß ich nun, wie die aussieht.

    Bis zur letzten Präsidentschaftswahl haben die Meinungsforscher ihre Samples nämlich nicht nach den Bildungsabschlüssen gewichtet - das schien unnötig, denn die hatten bis dato nie besonders stark mit Wahlentscheidungen korreliert. 2016 änderte sich das aber ziemlich drastisch: Je niedriger der Bildungsabschluss, desto Trump. Die FT zeigt das an den Umfragen eines Instituts in Pennsylvania - man hat die Rohdaten genommen und daraus Umfrageergebnisse gebastelt; einmal ohne die Gewichtung nach Bildungsabschlüssen und einmal mit derselben:

    Man sieht: Was vor 2016 noch ein relativ irrelevanter Faktor war, beeinflusste vor vier Jahren das Ergebnis der Umfrage recht deutlich.

    Mittlerweile allerdings gewichtet man nach Bildungsabschluss - und das hat Konsequenzen. Eine jüngst veröffentlichte Umfrage aus Florida etwa sieht Biden sechs Punkte vor dem Orangenen; nach der Methodik von 2016 wären es bei gleichen Rohdaten elf gewesen. Diese Diskrepanz zeigt sich auch in anderen Erhebungen.

    Wenn man also den Umfragevorsprung Bidens mit dem Clintons vergleicht, dann vergleicht man Äpfel mit Birnen - durch die veränderte Methodik hängen die Demoskopen Biden de facto eine Bleiweste um, die Clinton nicht zu schleppen hatte, drücken seine Zahlen.

    Ein weiterer Aspekt, hier aber schon thematisiert, ist die heuer deutlich geringere Zahl der unentschlossenen Befragten - da bleibt weniger Spielraum für eine Aufholjagd.

    https://goodandreadi.com/2020/09/04/polling-explainer-is-the-race-for-the-white- house-tightening/

    Ich selbst habe auch etwas gegrübelt und glaube, noch einen Grund für den verblüffenden Glauben an Drumpf, der sich in den Wettquoten ausdrückt, gefunden zu haben: Der Mann ist in den letzten Jahren schon sehr oft tot gesagt worden, und er hat bislang jede Krise überstanden. Nach jeder skandalösen Äußerung (oder jedem handfesten Skandal) äußerten Kommentatoren, das sei aber jetzt wirklich das Ende. Das war es nie.

    Daraus folgern mMn viele (zumindest unbewusst), der Donald habe irgendwelche mysteriösen Superkräfte. Das ist natürlich nicht der Fall: Er hat seine Skandale überstanden, weil republikanische Abgeordnete, Senatoren und Meinungsmacher nicht mit ihm gebrochen haben; im November entscheidet aber erstmals seit vier Jahren das Volk über sein Schicksal. Aber ich glaube, dass viele Menschen da nicht so klar unterscheiden, wie es eigentlich geboten wäre.

  • RE: Trumps gute Wettquoten: Versuch einer Erklärung

    saladin, 05.09.2020 07:56, Reply to #2
    #3

    viele fox-seher galuben dass trump der erlöser ist un d dass er in führung liegt und dass alles andere fake-news ist.

    deswegen wetten sie auch auf ihn

  • RE: Trumps gute Wettquoten: Versuch einer Erklärung

    drui (MdPB), 05.09.2020 09:56, Reply to #3
    #4

    viele fox-seher galuben dass trump der erlöser ist un d dass er in führung liegt und dass alles andere fake-news ist.

    deswegen wetten sie auch auf ihn

    Und die Trump-Hasser sind gebrannte Kinder. Vielleicht wetten sie für ihn, um im schlimmsten Fall monetär entschädigt zu werden.

  • Place your bets / Iowa, Pennsylvania, Arizona

    Wanli, 05.09.2020 11:22, Reply to #4
    #5

    Bei PredictIt kann man auf den Sieger in jedem der Einzelstaaten wetten - für jede Gewinneraktie wird ein Dollar ausgezahlt, der Preis der momentan favorisierten ist momentan dieser:

    https://www.predictit.org/

    Ich würd zu diesen Preisen wohl Biden in Iowa kaufen - um die 30 Cent, also im Falle eines Bidensieges in diesem Staat ein Profit von über 200%.

    - Laut Umfragen ist es dort sehr knapp.

    https://projects.fivethirtyeight.com/polls/president-general/iowa/

    - Iowa fiel 2008 und 2012 an die Demokraten.

    - Drei der vier Housewahlkreise werden von Demokraten gehalten, das Rennen um den Senatssitz gilt als eng.

    Wenn Ihr plötzlich Lust auf eine Wette hättet - in welche Aktie würdet ihr investieren?

    EDIT

    In recht vielen aktuellen Medienberichten diskutiert: Pennsylvania. Die Umfragen sehen Biden vorn, aber im wirtschaftlich gebeutelten Westen des Staates ist Fracking ein Jobmotor, die von Trump durchgesetzte laxere Regulierung der Industrie nicht unpopulär.

    https://www.msn.com/en-us/news/politics/could-western-pennsylvania-win-trump-a-s econd-term/ar-BB18HtAW

    https://spectator.org/biden-harris-have-a-big-problem-in-pennsylvania/

    In Arizona hat die Kampagne des POTUS die für die nächste Woche gebuchte Fernsehwerbung storniert.

    https://politicalwire.com/2020/09/04/trump-campaign-going-dark-in-arizona/

  • RE: Place your bets / Iowa, Pennsylvania, Arizona

    drui (MdPB), 05.09.2020 15:57, Reply to #5
    #6

    Schade, dass das nur für "US-Persons" zugelassen ist. Neben Iowa wären Georgia, Texas und NC ein gutes gamble, Arizona und Michigan eher etwas für das sichere Geld.

    Riskant aber sehr ertragreich wäre Alaska, da führte Trump Ende Juli mit nur 6%, wenig Wähler, wenig Umfragen, Hang zu Independents, Trump-kritische (beliebte) Senatorin.

    Man wird mir wohl wieder wie 2016 zu viel Optimismus vorwerfen, aber woran soll man sich sonst halten als an Zahlen und Fakten?

    Stand aktuell bin ich pessimistisch bezüglich: Ohio, Texas, Iowa, Florida. Optimistisch bez. Michigan, Arizona, Virginia, Wisconsin, Nevada, New Hampshire.

    Unschlüssig bez. Pennsylvania, Minnesota, Georgia, North Carolina.

    Heißt also: Auch bei mir hat Biden noch nicht gewonnen, was va. daran liegt, dass ich den Umfragen in Florida nicht traue und die Dems dort kaum gezielte Latinowerbung bzw. Wählerregistrierungen und Hauskontakte machen. Sie haben irgendwie ein Händchen dafür, in Florida stets zu verkacken.

    Edit: Zu Pennsylvania: Paul Kengor ist jetzt nicht der neutralste Beobachter, ein erzkatholischer Reagan-Fanboy und Kommunistenhasser, der Kamela Harris als ultralinks ansieht und Pennsylvania deshalb für die Demokraten verloren, naja. Fracking ist dort ein Faktor, aber Biden ist da ja nicht grundätzlich dagegen und den Absturz hat er nicht zu verantworten, eher schon Trump und die von ihm geförderten unkontrollierten Megainvestitionen auf Pump und ohne Umweltauflagen, gekoppelt mit seiner katastrophalen Corona-Bilanz und dem Ölpreisverfall.

  • Ein Omen?

    Wanli, 06.09.2020 15:02, Reply to #6
    #7

    Neben Iowa wären Georgia, Texas und NC ein gutes gamble, Arizona und Michigan eher etwas für das sichere Geld.

    Einverstanden, aber auf Georgia würde ich nicht setzen - da wird einfach zu viel getrickst. Ein neuer Report besagt, dass (erneut) 200.000 WählerInnen "irrtümlich" aus den Wahlverzeichnissen gestrichen wurden.

    The state of Georgia has likely removed nearly 200,000 Georgia citizens from the voter rolls for wrongfully concluding that those people had moved and not changed the address on their voter registration, when in fact they never moved, according to a new report released on Wednesday. [...]

    Reacting to the report, Andrea Young, executive director of the ACLU of Georgia, told CNN, "on the one hand, I was deeply saddened and on the other side, not entirely surprised."
    Young described the method the state has used to maintain its voting list as "prone to tremendous error" and not on par with the industry standard for residential address verification.

    https://edition.cnn.com/2020/09/02/politics/georgia-voter-rolls-report/index.htm l

    Da dann doch eher North Carolina, hier dürften Bidens Chancen gar nicht so schlecht stehen und der Gouverneur ist Demokrat, der wird nicht sein Möglichstes tun, um Schwarze von den Wahlurnen fernzuhalten. Alaska wäre natürlich wirklich mutig.

    Stand aktuell bin ich pessimistisch bezüglich: Ohio, Texas, Iowa, Florida. Optimistisch bez. Michigan, Arizona, Virginia, Wisconsin, Nevada, New Hampshire.

    Unschlüssig bez. Pennsylvania, Minnesota, Georgia, North Carolina.

    Eigentlich sollte Wisconsin wackeliger sein als Minnesota (demographisch ähnlich, aber ländlicher), ich würde erwarten, dass Minnesota nur zu Trump überläuft, wenn der auch den Nachbarstaat gewinnt. Gut, die jüngsten Unruhen begannen in Minneapolis, aber mit Kenosha in Wisconsin sind ja jetzt auch beide Staaten in dieser Beziehung in den Schlagzeilen.

    -----

    Vielleicht ja ein Omen für die Wahl: Eine Bootsparade zu Ehren des POTUS geriet auf Lake Travis in Texas in schwere See, mehrere MAGA-Nußschalen sanken.

    https://edition.cnn.com/2020/09/05/us/trump-parade-boats-sink-trnd/index.html

    EDIT

    Der Präsident hatte sogar eine Videobotschaft an die "Boaters for Trump" (die im ganzen Land cruisen) gerichtet: Wenn er Zeit hätte, würde er ja auch gern an Bord kommen und eine Fahne schwenken.

    https://twitter.com/DanScavino/status/1295165355690688514

    Eigentlich schade, dass sein Terminkalender an diesem Wochenende schon voll war (er musste golfen).

  • Faustformel

    Wanli, 07.09.2020 15:50, Reply to #7
    #8

    Man kann Umfragen aus den entscheidenden Swing States wälzen, um sich ein Bild über die Wahrscheinlichkeit eines Bidensieges zu machen; wenn das zu mühsam ist, hat Nate Silver eine grobe Schätzung basierend auf dem landesweiten Stimmenanteil:

    Liegt Biden bis zu etwa drei Punkte vor Trump, dann ist er (eher) der Underdog, da das Electoral College das Ergebnis wohl erneut zugunsten des Amtsinhabers beeinflussen wird; ab etwa fünf Punkten Vorsprung wäre es praktisch sicher, dass Joe die Möbelpacker rufen kann.

  • RE: Faustformel

    drui (MdPB), 08.09.2020 09:49, Reply to #8
    #9

    ab etwa fünf Punkten Vorsprung wäre es praktisch sicher, dass Joe die Möbelpacker rufen kann

    Erschreckend genug. Sowas schimpft sich "Demokratie".

  • RE: Faustformel

    Eckhart, 08.09.2020 15:10, Reply to #9
    #10

    ab etwa fünf Punkten Vorsprung wäre es praktisch sicher, dass Joe die Möbelpacker rufen kann

    Erschreckend genug. Sowas schimpft sich "Demokratie".

    Das ist ja eine ganz andere Diskussion.
    Ich finde neben der Nicht-Verhältniswahl vor allem eines total blöd: Das die Wähler aus Swing states viel mehr Wert sind, als die Wähler aus (vermeintlich) sicheren Staaten.
    Dort wird nur am Rande bzw. ein bischen Wahlkampf gemacht, weil der Sieger eh fest steht. Ob 60 zu 40 oder 70 zu 30? Egal.
    Und da wo man sich ein Kippen erhofft/befürchtet, da wird mit voller menpower und Geld reingegangen.
    Bei uns wird einigermassen über die Republik verteilt Wahlkampf gemacht. Natürlich mehr da, wo die Bevölkerungsdichte größer ist.
    Jetzt ein Beispiel aus der Region: Auch da wo die CSU um 55% holt, kämpft sie weiter um die Wähler, weil 60 oder 65% eben noch besser wäre für ihre Vertretung im Parlament.

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